Venezuela war seit 1958 eine relativ stabile Demokratie mit hohen Einnahmen insbesondere in den 1970er Jahren durch den Erdölexport. Ab 1999 haben Staat und die Gesellschaft mit der „bolivarischen Revolution“ einen grundlegenden Wandel zu einem „Sozialismus des 21. Jahrhundert“ unternommen. Seit einigen Jahren befindet sich das Land in einer tiefen politischen und sozioökonomischen Krise. In den letzten zehn Jahren sollen über 7 Mio der ursprünglich knapp 30 Mio Venezolaner:innen das Land verlassen haben – die venezolanische Massenemigration ist damit eine der größten Flüchtlingsbewegungen weltweit.
Offizielle Währung ist der Bolívar, der zwischenzeitlich eine Hyperinflation von weit über 1000% erlebte. 2022 ist die Inflation auf etwas über 200% gesunken. Löhne werden in Bolívares gezahlt, inoffizielles Zahlungsmittel ist allerdings der US-Dollar. In den letzten zwei Jahren hat sich das Land wirtschaftlich leicht erholt – nach einer Zeit leerer Regale gibt es bei vergleichsweise hohen Preisen in den Supermärkten in Caracas wieder alles zu kaufen. Die Versorgung mit u.a. Strom, Wasser und Benzin ist in der Hauptstadt aktuell weitgehend stabil – das ist in den übrigen Teilen des Landes nicht durchgängig gegeben.
Trotz der sehr schwierigen Situation gibt es in Venezuela moderne Brettspiele und eine eigene Brettspielszene. Zwei Interviews aus ganz unterschiedlichen Perspektiven sollen darin einen kleinen Einblick geben. Ein großes Dankeschön geht an die beiden Interviewpartner für ihre Zeit und Bereitschaft meine Fragen zu beantworten!
[Das Interview steht hier in deutscher Übersetzung. Wer das spanische Original nachlesen möchte, findet dies unter dem Text als PDF verlinkt. – La entrevista está disponible aquí traducida al alemán. Si desean leer el original en español, lo encontrarán enlazado como PDF debajo del texto.]
Hallo Luisjoey, schön, dass du dir die Zeit nimmst, magst du dich den Leser:innen vorstellen: Wer du bist und was du machst?
Danke für die Einladung, mein Name ist Luis Fernandez, besser bekannt als Luisjoey und Gründer von Calabozo Criollo [Anm. calabozo = Dungeon, calabozo criollo bedeutet also „kreolischer Kerker“], der nationalen venezolanischen Gemeinschaft für Brettspiele, Rollenspiele und Wargames seit 2004.
Von Beruf bin ich Fachmann für internationale Beziehungen, aber derzeit arbeite ich als Markenbotschafter für das Unternehmen Devir in Lateinamerika.
Wann und wie hast du mit dem Hobby „Brettspiele“ begonnen?
Schon seit meiner Kindheit mit Imperio cobra und den Cassette juego in den 80er Jahren! Schach habe ich mit 7 Jahren mit einigen deutsch-honduranischen Freunden gelernt; aber mein Einstieg in moderne Brettspiele war etwa 2003-2004 mit Spielen wie Munchkin, Betrayal at the house on the hill (ein Spiel, das für mich zur Obsession wurde) und erst 2007 habe ich meine Brettspielsammlung wirklich begonnen, die heute 572 Titel quer durch alle Genres umfasst, hoffentlich wächst sie weiter!
Was reizt dich besonders an diesem Hobby?
Es ist ein sehr komplettes und vielfältiges Hobby. Ich liebe es, die Dynamik und die Mechanik des Spiels zu sehen, und es ist großartig, sich mit Leuten auszutauschen, die das Hobby mögen oder die in die Welt der Brettspiele einsteigen wollen; Brettspiele sind für mich kein Hobby, sie sind wie meine Religion und meine Lebensweise.
Mein Traum oder Ziel ist es, eine Tournee durch Amerika oder die ganze Welt zu machen, Hobbyläden zu besuchen, für die venezolanische Verspieltheit zu werben und Videoreportagen davon zu machen, um die Freundschaftsbande für die Leidenschaft zu stärken, die uns eint.
Wie sieht die Situation der Brettspiele in Venezuela aus?
Es ist eine KOMPLIZIERTE Situation, weil Venezuela seit 2002 eine Währungsbeschränkung hat, zusätzlich zu einem selbst auferlegten Wirtschaftsembargo, und die Währung sehr schwankend ist, was es für die Leute schwierig macht, Brettspiele zu bekommen oder zu vermarkten. Immer wenn ich gefragt werde, wie man Spiele ins Land bringt, zeige ich den Leuten ein Bild von HAN SOLO, dem Schutzpatron des Handels gegen repressive Regime.
Es gibt viele Leute, die spielen, und Calabozo Criollo hat viele neue Spieler hervorgebracht und sogar Wettbewerbe organisiert, die im Laufe der Zeit allerdings wieder verschwunden sind. Viele Leute mussten aus Not zu verschiedenen Zeiten auswandern, was die verfügbare Spielerbasis zusätzlich zu den normalen, täglichen Herausforderungen des Überlebens, Heiraten, Kinder, Arbeit, etc. verringert hat. Das Motto von Calabozo Criollo ist #WeDoPlay, was bedeutet, dass wir nicht spielen, weil es leicht ist, sondern weil es eigentlich unmöglich ist.
Obwohl die Diaspora und die Boardgame-Arena die Gemeinschaft sehr aktiv gehalten und die Entfernungen verkürzt haben, kehren zu Weihnachten viele Spielerfreunde zurück und wir haben die Möglichkeit, uns persönlich zum Spielen und Kennenlernen zu treffen.
Wann hast du mit deinen Kanälen begonnen, in der Öffentlichkeit über Spiele zu sprechen? Und warum hast du damit angefangen?
Im Jahr 2001 begann ich, mich für HeroClix voranzubringen, weil ich keine Gegner finden konnte, und so wurde es auf jedes Spiel angewandt, das ich ausprobierte und spielte. Es kam immer wieder vor, dass Leute erwähnten, dass sie Warhammer in England gesehen hatten, oder dass sie in die USA gereist waren und die Hobbyläden gesehen hatten, oder dass Catan cool war, aber man es nur in Deutschland bekommen konnte.
Es wurde zu einem Kreuzzug, um Spielen in Venezuela zu ermöglichen, um gesunde und sichere Spielräume zu schaffen, die sich auf das Spiel konzentrieren und nicht auf die zwischenmenschlichen Dynamiken und Dramen (die zu jeder menschlichen Aktivität gehören und bei Lateinamerikanern besonders ausgeprägt sind).
Die Kanäle als solche begannen 2004 mit dem nicht mehr existierenden Calabozo Criollo Forum, das sich 2009 weiterentwickelte zu Facebook, Blogspot, Twitter. 2014 kam Instagram dazu. Angesichts der Schwierigkeiten mit dem Internet in diesem Land hat es eine Weile gedauert, bis wir auf YouTube und Twitch aufgesprungen sind, aber jetzt könnt ihr uns sogar auf Tik Tok folgen. Uns auf diesen Netzwerken zu folgen, bedeutet, gegen die Schwierigkeiten anzugehen, und ist sogar ein Akt der Rebellion gegen die Widrigkeiten, aber auch der Unterstützung für uns.
Brettspiele sind weltweit auf dem Vormarsch: Siehst du trotz der schwierigen politischen und wirtschaftlichen Lage auch eine Entwicklung in Venezuela?
Ja, die Pandemie brachte der Welt Schwierigkeiten und eine Neuorientierung: Viele Menschen mussten für lange Zeit zu Hause bleiben und Brettspiele haben ihre Nische gefunden. Mit der Pandemie entstanden in Caracas, der Stadt, in der ich lebe, fünf spielerische Initiativen: @veneludica, @dragonsndogs, @Cava_Scale, @fungredient und @Brilosgames, die dafür verantwortlich waren, Produkte für den wachsenden Markt von Brettspielen in Venezuela bereitzustellen. Wir sind sehr dankbar für ihre Bemühungen, ebenso den internen Initiativen wie @tcgplaystore_sc, @juegapzo und @nerdish_ve begleitet von traditionellen Initiativen wie @magicsur und den vielen, die noch kommen werden, um die Spielegemeinschaft zu erweitern; und ich hoffe, sie wissen, dass sie auf Calabozo Criollo zählen können.
Gibt es sonst noch etwas, das du gerne ergänzen möchtest?
Die Wahrheit ist, dass es viele Dinge zu sagen gibt, aber nicht, um das Interview lang zu machen. Die Hauptbotschaft ist: Ja, in Venezuela wird gespielt und wir sind die #WeDoPlay und ihr könnt jederzeit zu uns kommen und mit uns mitspielen, wann immer ihr wollt. Wir haben eine besondere und heitere Art zu spielen: von einfachen Party-Spielen bis hin zu den schwersten 4X-Experten-Spielen wie Twilight Imperium. Wir haben gute Spieler in die ganze Welt exportiert und ich hoffe, ihr habt mal die Möglichkeit, unser Hobby mit uns zu teilen.
Herzlichen Dank!
Ich danke dir für das Gespräch.