Brettspiele in Venezuela – Teil 2

Das Beitragsbild zeigt einen typischen Ausschnitt dessen, was man in einem normalen Spielzeugladen in der Hauptstadt Caracas an Spielen kaufen kann. Moderne Brett- und Kartenspiele sind schwer zu bekommen und Spieleautor:innen gibt es auch nur wenige. Lou Paris gehört zu den Venezolanern, die seit langem emigiert sind und nicht mehr im Land leben. Er ist Spieleautor, verlegt seine Spiele selbst und hat mit Burdaerata das vermutlich bekannteste und zugleich ein sehr venezolanisches Kartenspiel erfunden. Per E-Mail habe ich ein Interview mit ihm geführt, in dem etwas über sich und seine Arbeit als Spieleautor erzählt.

[Das Interview steht hier in deutscher Übersetzung. Wer das spanische Original nachlesen möchte, findet dies unter dem Text als PDF verlinkt. Den ersten Teil könnt ihr hier lesen. – La entrevista está disponible aquí traducida al alemán. Si deseen leer el original en español, lo encontrarán enlazado como PDF debajo del texto. Pueden leer la primera parte aquí.]

Hallo Lou, schön, dass du dir die Zeit nimmst. Magst du dich den Leser:innen kurz vorstellen?

Hallo Daniel. Vielen Dank an dich für die Vorbereitung dieses Interviews. Heute möchte ich deinen Lesern zwei Spieleserien vorstellen, die wir in den letzten vier Jahren entwickelt haben: Burdaerata und Pragaming AF.

Was magst du über dich erzählen?

Ich wurde in Venezuela geboren, wuchs aber in Kanada und den Vereinigten Staaten auf. Ich habe in sechs Ländern gelebt und gearbeitet, darunter auch in Deutschland (ja, ich kann Deutsch!). Ich habe fünf Jahre lang in Winterberg, NRW, gelebt. Es hat mir super gefallen, aber 2006 entschied ich mich, zurück nach Florida zu ziehen, weil meine ganze Familie dort war.

In die Welt der Spieleentwicklung bin ich zufällig geraten. Es fing mit einem Experiment an und entwickelte sich zu etwas, das stetig gewachsen ist. Jetzt erzähle ich euch mehr über die Entstehung dieser Spiele… Mein akademischer Hintergrund hat wenig mit der Entwicklung dieser Art von Projekten zu tun. Ich habe Ingenieurwesen und Betriebswirtschaft studiert, aber ich habe immer gerne an Projekten gearbeitet, die Kreativität und künstlerische Fähigkeiten erfordern.

Ich habe über ein Jahrzehnt lang als Leiter der Abteilung für Unternehmertum an der Stetson University gearbeitet. In dieser Funktion hatte ich die Gelegenheit, viele Arten von Unternehmen zu bewerten, darunter auch das eine oder andere Brettspiel. Dort habe ich gelernt, wie groß der Spielemarkt in den Vereinigten Staaten ist. Zum Beispiel soll Cards Against Humanity einen Marktwert von 500 Millionen Dollar haben.

In meiner Freizeit widme ich mich meiner Familie, der Fotografie und dem Mountainbiking.

Wo lebst du heute?

Ich wohne in Port Orange, Florida. Das ist eine Stadt südlich von Daytona Beach, wo die berühmten NASCAR-Rennen ausgetragen werden. Ich wohne 7 Meilen vom Strand entfernt, was ich sehr schätze.

Was machst du mit Brett- und Kartenspielen?

Hinter dem Tisch in der Speisekammer haben wir einen Schrank mit Bildern, Büchern und vielen Spielen. Sehr oft setze ich mich mit meiner Familie zusammen, um eines dieser Spiele zu spielen. Die Spiele, die wir am häufigsten spielen, sind Uno, Scrabble, Boggle und eines meiner Spiele, Rumba con Misses.

Wie bist du zur Entwicklung von Brettspielen gekommen?

Wie ich bereits erwähnt habe, bin ich eher zufällig in die Welt der Spiele eingestiegen. Zu der Zeit verkaufte ich Fußmatten über Amazon. Wir waren mit diesem Geschäft erfolgreich, und ich fragte mich, ob es möglich wäre, dasselbe mit anderen Produkten zu tun, die eher eine Nische darstellen. Auf meiner Ideenliste stand ein Spiel, das wie Cards Against Humanity funktionierte, aber einen spezifischeren kulturellen Fokus hatte, z.B. von einem einzigen spanischsprachigen Land: Venezuela.

Von Cards Against Humanity hatte bereits versucht, eine spanische Version auf den Markt zu bringen, aber die Ergebnisse waren nur mittelmäßig. Meine Theorie war, dass sie gescheitert sind, weil die verwendete Sprache zu allgemein war (sie wollten ein Spiel machen, das jeder, egal aus welchem Land, verstehen konnte). Ich dachte, es würde nur funktionieren, wenn es sehr umgangssprachliche Ausdrücke enthielte. Also beschlossen wir, eine Version für den venezolanischen Markt zu entwickeln. Am Anfang war es ein Experiment, aber als ich anfing, Ausdrücke und Wörter zu sammeln, um das Spiel zu entwickeln, wurde mir der kulturelle Wert des Spiels bewusst.

Lass mich das kurz erklären: Ich hatte jahrzehntelang außerhalb Venezuelas gelebt, und nur wenn ich mich mit Freunden und Familie traf, hatte ich die Gelegenheit, mich an angenehme Momente in diesem Land zu erinnern (die aktuelle Situation in Venezuela ist schrecklich, aber das wäre ein Thema für ein anderes Gespräch). Mir wurde klar, dass dieses Spiel geeignet war, diese Gespräche zu fördern und die Erinnerung an diese Kultur wach zu halten. Ich erstellte einen Prototyp und spielte ihn. Es war ein voller Erfolg bei meinen Freunden.

Mit dieser positiven Rückmeldung beschlossen wir, mit der ersten Produktion von Burdaerata zu beginnen (der Name kommt von der Art und Weise, wie die Venezolaner „burda de rata“ aussprechen, was so viel wie „sehr schlechte Person“ bedeutet). Im ersten Jahr, in dem wir das Spiel auf den Markt brachten, haben wir überhaupt keine Werbung dafür gemacht. Ein oder zwei andere Spiele wurden verkauft, aber in Wahrheit wusste fast niemand, dass es existiert. Bis ich eines Tages, während der Pandemie im Jahr 2020, in meinem Büro arbeitete und das Telefon anfing, Verkaufsmeldungen in einer nie dagewesenen Geschwindigkeit auszusenden. Offensichtlich war etwas passiert, aber wir wussten nicht was. Nachdem wir eine Stunde lang alle sozialen Netzwerke durchsucht hatten, fanden wir schließlich die Quelle für all diese Verkäufe: Ein berühmter venezolanischer Radiomoderator hatte Burdaerata in einem seiner Video-Podcasts gespielt. Seitdem reißen die Verkäufe nicht mehr ab.

Welche Spiele hast du sonst noch erfunden? Wie funktionieren sie und was magst du an deinen Spielen?

Burdaerata war das erste Spiel, das ich erfunden habe. Ich habe es als MVP (minimal viable product = als minimal funktionierende, maximal reduzierte Produktversion) veröffentlicht. Es hatte eine Menge Fehler, sowohl im Inhalt als auch im Druck. Auch die Herstellungsqualität war schrecklich. Die Firma, die wir anfangs beauftragt hatten, leistete sehr schlechte Arbeit. Aber den Leuten war das egal, sie haben es weiter gekauft.

Nachdem wir viele Exemplare verkauft hatten, beschlossen wir, mit der Öffentlichkeit zu sprechen und um Feedback zu bitten, um das Spiel zu verbessern. Das Feedback, das wir erhielten, war sehr einheitlich: Wir sollten weniger auf die venezolanische Politik eingehen, weniger Namen bestimmter berühmter Personen verwenden und mehr Phrasen einbauen, die alle Regionen des Landes repräsentieren. Mit diesem Feedback und einer neuen Produktionsfirma haben wir die zweite Version des Spiels veröffentlicht.

Angesichts des Erfolgs, den wir hatten, wollten wir unbedingt weitere Versionen produzieren. Unter anderem wurden wir um Karten mit gröberen Sätzen und Ausdrücken gebeten. Also schufen wir die „Candela-Erweiterung„. Ich finde es immer noch lustig, dass diese Empfehlungen hauptsächlich von älteren Damen kamen.

Dann sahen wir die Gelegenheit, ein Strategiespiel zu entwickeln, das wir Rumba con Misses nannten. In diesem Spiel beschlossen wir, andere Aspekte der venezolanischen Kultur sowie die Bedeutung, die wir Schönheitswettbewerben beimessen, zu feiern (Venezuela, mit einer Bevölkerung von 30 Millionen, hat sieben Mal die Miss Universe gewonnen – einmal weniger als die Vereinigten Staaten, mit einer zehnmal größeren Bevölkerung).

Bei diesem Spiel muss man drei Rumbas sammeln, um zu gewinnen. Jede Rumba besteht aus einer Miss, einem DJ (im Spiel repräsentatiert durch berühmte venezolanische Musiker) und einem (für Venezuela typischen) alkoholischen Getränk.

In jüngster Zeit haben wir eine Version von Burdaerata mit dem bekannten venezolanischen Komiker Emilio Lovera entwickelt. Wir halfen ihm bei der Erstellung der Karten und fügten jeder Karte einen QR-Code hinzu, damit die Spieler hören können, was er sagt.

Diese QR-Code-Idee brachte uns schließlich dazu, ein Spiel für den amerikanischen Markt zu entwickeln. Genauer gesagt für den Markt der College-Studenten: Pregaming AF (Pregaming bezieht sich auf die Aktivität, sich bei jemandem zu Hause zu treffen, um zu trinken, bevor man in eine Bar geht. „AF“ steht für „Ace F**k„). In diesem Spiel scannen die Spieler, wenn sie an der Reihe sind, eine Karte und hören, wie eine Figur sagt, welche Buße sie tun müssen, weil sie sonst trinken müssen.

Vielen Dank!

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